ursprüngliche Gefühl unhinterfragter Zugehörigkeit“ ab: Yasmin, die katholische Christin ist, wird immer wieder als orthodoxe Muslima ‚gebrandmarkt‘. Ausgerechnet ihre Kollegin beim Aushilfsjob im Supermarkt, die – paradoxerweise – selbst Migrantin ist, nimmt diese fälschliche Zuordnung durch körperliche Merkmale vor. Die Diskriminierungserfahrungen spitzen sich zu, bis die Musikerin ihre Identität auf den Prüfstand stellt: „Was genau meint das eigentlich, Heimat? Den Ort des Aufwachsens? Die Herkunft der Familie? Die 4186 Kilometer zwischen Hildesheim und Bagdad? Und was macht das mit mir?“ Auf den 248 Seiten von „4186 Kilometer Heimat“ geht die Musikerin diesen Fragen nach. Sie schreibt hin und wieder anekdotisch, aber bleibt doch ernsthaft und bringt sich reflexiv ein. Nicht weniger als die Frage „Wie werden wir zu den Menschen, die wir heute sind?“ behandelt der Roman laut Klappentext. Was also ist „4186 Kilometer Heimat“? Der Versuch einer literarischen Selbstverortung mit (pseudo-) philosophischen Elementen? Vielleicht. Aber eines ist „4186 Kilometer Heimat“ ganz sicher nicht: Eine Ausnahme.
Spätestens seit der mittlerweile international bekannten „Black Lives Matter“-Bewegung, dem Protest von People of Color gegen Polizeigewalt, aber auch durch mehrere, rassistisch moti- vierte Anschläge in Deutschland – Mölln (1992), Halle (2019) und Hanau (2020) – die nicht nur, aber vor allem wegen der deutschen Vergangenheit so schwer wiegen, sind Themen wie Rassismus, Identität und Heimat weder aus der öffentlichen Debatte noch aus der gegenwärtigen Literatur wegzudenken. Romane, die um diese Themen kreisen, sind in der Folge nicht die Ausnahme, sondern die Regel: ‚Heimat‘ als Aufhänger und eine Autorin mit Migrationshintergrund – ein Standardrezept für Gegenwartsliteratur, das El-Amin in „4186 Kilometer Heimat“ bedient und das so gut funktioniert, wie es verbraucht ist. Amir Ahmadis „Hoffnungsland Deutschland“ (2022) und, bereits ein paar Jahre zuvor, Paula Celiks „Heimat kennt keine Grenzen“ (2017), stehen beispielhaft dafür. Beide Autobiographien sind auf jüngeren Bestseller-Listen wiederzufinden.
In „Hoffnungsland Deutschland“ flieht Amir Ahmadis ein halbes Jahr vor dem Abzug der Ame- rikaner aus Afghanistan im September 2021 nach Deutschland, um sich im ‚Hoffnungsland‘ ein neues Leben aufzubauen. Der Abzug aus Afghanistan, der unter dem republikanischen Präsidenten Donald J. Trump begonnen und von dem demokratischen Präsidenten Joe R. Biden fortgesetzt worden ist, war zum Zeitpunkt seiner Flucht, im März 2021, weder angekündigt noch vollzogen. Als Mitarbeiter der Bundeswehr vor Ort konnte Ahmadis Kontakte in diplo- matische Kreise knüpfen, aus denen er von den Plänen der Amerikaner erfuhr. „Ein Gefühl der Ohnmacht“, so Ahamdis im Roman, setzte bei ihm ein: Würden „die Uhren in Afghanistan zurückgedreht“, würde seine Homosexualität ihm zum Verhängnis werden. So stand der Entschluss zur Flucht fest. Ahamdis, der bruchstückhaft deutsch sprach, fand sich schnell ein. Dennoch wird im Roman deutlich, dass das ‚Hoffnungsland‘ nicht nur Sonnen-, sondern auch Schattenseiten hat: Immer wieder zeigt Ahamdis sich durch Erfahrungen mit Rassismus desillusioniert; er stünde nicht inmitten, sondern abseits der deutschen, weißen Mehrheitsgesellschaft und beschreibt sich als „heimatlos“. Seit dem Erhalt des Deutschen Preises für Literatur im Jahr 2022 setzt Ahamdis seine Popularität ein, um in Talk-Shows auf den Anstieg von Rassismus und rassistischer Gewalt in Deutschland aufmerksam zu machen.
„Heimat kennt keine Grenzen“ ist ähnlich und anders zugleich: Paula Celik, Moderatorin der Sendung „Die Welt im Überblick“ im öffentlich-rechtlichen Rundfunk des deutschen Fernsehens, zeichnet in „Heimat kennt keine Grenzen“ die Flucht ihrer Familie aus dem süd-östlichen, kurdischen Teil der Türkei nach, die sie bis ins Jahr 2015 „mehr verdrängt als beachtet“ hatte: Mit der „Flüchtlingskrise“ und der Aufnahme von über einer Million Flüchtlingen in Deutschland stellt Celik die plötzliche Entstehung eines gesellschaftlichen Klimas fest, das angespannt bis unvereinbar ist, trifft die liberale „Wir schaffen das“-Haltung auf die konservative „Obergrenzen“-Haltung. Die Zunahme von Diskriminierung sei „inflationär“ gewesen, von jetzt auf gleich. Die Nennung ihres Nachnamens, „Celik“, der „für viele nicht deutsch genug“ war, habe nicht nur vereinzelt, sondern auch vermehrt zu Ablehnung geführt. Auch führt Celik an, nicht (mehr) auf deutsch, sondern vor allem in englisch angesprochen worden zu sein. Nach dem Motto: „So wie sie aussieht, kann sie ja gar nicht deutsch sein“.
Im Kern ist das Debüt der Moderatorin eine Kritik an der „Mich betrifft das nicht-Attitüde“, die vorherrschend sei. Für die Mehrheit sei Rassismus oft „nichts als eine Fußnote in ihrem Leben“, die, der Erwünschtheit wegen, hin und wieder mit einem Satz wie „Ja, schlimm“ zu quittieren sei – nicht mehr, nicht weniger. Nicht nur als Mensch mit einer Migrationsgeschichte, sondern auch als Frau in der Medienbranche wünscht Celik sich, als Appell des Romans, einen Umgang mit Diskriminierung und Rassismus, der offensiv(-er) ist, und eine Gesellschaft, die mehr als ein „stiller Zuschauer“ ist: „Ich bin hier aufgewachsen und habe nach all dieser Zeit auf einmal das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Wie kann das sein?“.
Was ist innovativ an „4186 Kilometer Heimat“? Im Gegensatz zu „Hoffnungsland Deutschland“ und „Heimat kennt keine Grenzen“ fällt das Debüt von El-Amin durch Kontraste auf: Durch den Wechsel der Kapitel steht das gutbürgerliche Leben von Yasmin dem Leben von Frauen im Irak gegenüber, die in Zuständen leben, die bürgerkriegsähnlich sind; die „Rauchschwaden vom Straßenkampf des Vorabends“ steigen noch auf. Die Kapitel gehen zunehmend ineinander über, sodass die Geschehnisse im Irak in die Gegenwart von Yasmin eindringen. Was im ersten Moment innovativ zu sein scheint, inhaltlich sowie formal, hat Relativierungen zur Folge: Die eigenen, diskriminierenden und rassistischen Erfahrungen von Yasmin, die bereits an ihrem sechsten Geburtstag beginnen und ‚ein roter Faden‘ in ihrem Leben sind, treten hinter den Herausforderungen der Irakerinnen zwangsläufig zurück. In Anbetracht des Kampfes für Freiheit, Rechte und, im Äußersten, ums Überleben, scheint die fälschliche Zuordnung von Yasmin durch körperliche Merkmale verblasst. Was also bleibt von „4186 Kilometer Heimat“?
Das Debüt der Musikerin, die bereits in „Die Welt ist Rund“ zwar politisch war, aber oberflächlich blieb, ist nicht als Ausdruck von etwas, sondern als Anpassung an etwas zu verstehen. Die Abdeckung von Themen der Gegenwart, die vollumfänglich ist – Heimat, Identität, Rassismus, Feminismus und LGBTQIA+ – macht die Beliebigkeit deutlich, mit der diese ausgewählt worden sind. So schreibt sie über das, was gegenwärtig ist, weil es gegenwärtig ist. El-Amin ist Musikerin, nicht Schriftstellerin. Ob sie Ambitionen hat, das zu ändern? Mutmaßlich: Nein. Die Wahl einer fiktionalisierten Autobiographie macht das deutlich: Das eigene Leben wird nicht mehrmals, sondern einmal erzählt und ist vor allem eines nicht: anschlussfähig. Durch die fiktionalen Elemente wurden die Themen ergänzt, die zur Abdeckung der Palette fehlten, z. B. LGBTQIA+, ein Thema, das sich in der Homosexualität ihres nicht real existierenden Cousins wiederfindet, und die Themen zugespitzt, die politischen und gesellschaftlichen ‚Zündstoff‘ boten, z. B. die Feminismus-Debatte, die im Rahmen der #MeToo-Bewegung kontrovers geführt wird und ein direkter Anschluss an das zeitgenössische Geschehen ist.
Die fehlende Innovationskraft von El-Amins Roman ergibt sich daraus: Es ging nicht darum, einen bestimmten Roman, sondern irgendeinen Roman zu schreiben, der in die Zeit passt, und mit einem Migrationshintergrund war eine Autobiographie der Musikerin vor allem eins: naheliegend. Die Beweggründe El-Amins? Eine finanzielle Flaute? Vielleicht. In Zeiten von Spotify & Co. stand die Musikindustrie schon besser da, soviel steht fest. Ein erneuter Anschluss an ihre musikalische Karriere könnte sich daher schwierig gestalten. In solchen Zeiten mag eine künstlerische Verästelung ein probates Mittel sein – El-Amin wäre nicht die erste Musikerin, die eine litera- rische Erweiterung ihres künstlerischen Portfolios vornimmt. Aber der Eindruck, dass diese eher eine leidenschaftslose Überbrückung als eine tatsächliche Neuausrichtung ist, bleibt.
Die Rezension entstammt der Seminararbeit von Marie Caroline Maase.