Prof. Dr. Claus-Michael Ort
Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien, CAU Kiel
Kulturtheorie beobachtet ,Kultur‘ – ,theoria‘ bedeutet im Griechischen ,Beobachtung‘ ,Anschauung’ – und das heißt: ,Kultur‘ beobachtet sich selbst.
Welche Möglichkeiten und Beschränkungen gibt es, Kultur theoretisch zu erschließen?
Keine wesentlich anderen als die erkenntnistheoretisch anstrengenden – selbstreflexiven und selbstinklusiven – Bedingungen, die gleichermaßen für unsere philosophischen, historisch-philologischen und sozial- und medienwissenschaftlichen Disziplinen gelten. Religionen, Mythologien, Künste (einschließlich Literatur) und Wissenschaften erweisen sich als Praktiken der Zeichenproduktion und des Zeichengebrauchs, die die Menschheit hervorgebracht hat, um damit sowohl ihre natürlichen als auch die selbst konstruierten ‚künstlichen‘ Umwelten sowie deren Vergangenheit und Gegenwart zu deuten, zu verstehen und zu tradieren – und deren zunehmende Komplexität zugleich ‚sinnhaft‘, d.h. kommunikativ anschlussfähig zu reduzieren.
Und wenn nun diese Zeichenproduktion (‚Kultur‘), mit deren Hilfe Gesellschaften kommunizieren, d.h. ‚Sinn‘ generieren, über sich erzählen und sich selber beschreiben, von Kulturtheorien wissenschaftlich beobachtet, analysiert, interpretiert wird, dann leisten letztere notwendigerweise selbst einen Beitrag zur Selbstbeschreibung und Selbstreflexion von Gesellschaften.
Um es im Anschluss an den Soziologen Dirk Baecker zuzuspitzen: Wenn gilt, dass erstens ‚Kultur‘ nicht nur menschliche und nicht-menschliche ‚Natur‘ beobachtet, bearbeitet und sich verfügbar macht, sondern sich spätestens seit der frühen Neuzeit auch selbst permanent im Medium von Kunst, Philosophie und Einzelwissenschaften beobachtet und reflektiert, und dass zweitens Kulturtheorie wiederum solche ‚Kultur‘ beobachtet, analysiert und interpretiert, dann erweisen sich wissenschaftliche Kulturtheorien als hochgradig selbstreflexive Beobachtungen dritten Grades. Sie beobachten und deuten ‚Kultur‘ (Artefakte und die mit ihnen verknüpften sozialen Praktiken) als dauerhaft funktionsfähige und – in Konsens oder Konflikt – sozial anschlussfähige Instrumente, mit denen menschliche Gesellschaften ihre internen und externen, natürlichen und künstlichen ‚Umwelten‘ – und damit auch sich selbst – als ‚sinnhaft‘ beobachten und zu verstehen versuchen.
Deshalb gehören Kulturtheorien, wie auch die ‚kulturwissenschaftlichen‘ Fächer insgesamt zu ihrem eigenen Gegenstand: ‚Kultur‘. (Siehe Dirk Baecker: Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie. Berlin: Suhrkamp 2013.)
Dass übrigens die Rede über ‚Kulturtheorien‘ immer selbst schon Kultur-Theorie, also Beobachtung von ‚Kultur‘ betreibt, führen auch diese erste und alle folgenden Antworten vor Augen.
Wie alt ist die Kulturtheorie als “Disziplin”? Wie nannte man es früher? Welche begrifflichen Alternativen gibt es?
a) Ich verstehe Kulturtheorie nicht als ‚Disziplin‘. Es handelt sich vielmehr um einen fächerübergreifenden (multidisziplinär hybriden) Blick auf ‚Kultur(en)‘, also einerseits auf deren Produkte (Artefakte im weitesten Sinn: vom Werkzeug zum komplexen Zeichensystem, vom Faustkeil bis zum Ackerbau, vom Dekalog bis zur kanonisierten ‚Hochkunst‘ und zur Populärkultur der Gegenwart) und andererseits auf die sozialen Praktiken und Prozesse ihrer gesellschaftlichen Hervorbringung, ihre Funktionen und ihre Verwendung. Und dieser Blick integriert philosophische, anthropologische und geschichtswissenschaftliche Perspektiven ebenso wie soziologische, medien-, zeichen- und diskurstheoretische. – Ohne semiotische, narratologische (zeichen- und erzähltheoretische) und ohne soziologische Analyseperspektiven wird eine ernstzunehmende Kulturtheorie jedenfalls nicht auskommen, will sie nicht auf Anwendbarkeit, also empirische Überprüfbarkeit von vornherein verzichten.
b) Was unter ‚Kultur‘ verstanden wird (‚cultura‘, ‚cultus‘ von lateinisch ‚colere‘: wohnen, bebauen, pflegen), hat sich seit der Antike stark verändert. Ausgehend von Genitivprädikaten als Agrikultur (‚cultura agri‘), als religiöse Praxis (‚cultus deorum‘) und als philosophische ‚Pflege der Seele‘ (Marcus Tullius Cicero: ‚cultura animi‘) verselbständigt sich ‚Kultur‘ in der frühen Neuzeit, also seit dem 16. und 17. Jahrhundert immer mehr zu einem abstrakten Begriff. Dieser definiert sich nicht mehr nur als Gegenbegriff zu einer zu ‚kultivierenden‘ Natur, sondern bezeichnet einen als autonom verstandenen Bereich gesellschaftlichen Handelns in Philosophie, Wissenschaft, Literatur und Kunst (Samuel Pufendorf, Giambattista Vico, Johann Gottfried Herder), der sich von politischen, ökonomischen und rechtlichen Diskurspraktiken unterscheidet. Vor allem im deutschsprachigen Bereich verengt er sich zugleich normativ, so dass ‚Kultur‘ seit dem späten 18. Jahrhundert zusehends auch ästhetische und moralische Wertsteigerung für sich reklamiert (Friedrich Schiller: Moralisierung des ‚Schönen‘; Immanuel Kant: ‚Kultur‘ als positiver Gegenbegriff zu äußerlicher ‚Zivilisation‘). Von Ansätzen zu einer ‚Kulturtheorie‘ in unserem Sinn kann frühestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts gesprochen werden, als sich Soziologie, Kultur- und Sozialgeschichte und Ethnologie (damals auch ‚Volkskunde‘) als eigenständige Disziplinen an den Universitäten etablierten (u.a. Wilhelm H. Riehl, Edward B. Tylor, Jacob Burckhardt, später Georg Simmel, Ernst Cassirer u.a.).
Ist Kultur immer gleich Kultur? Welche theoretischen Konsequenzen hat die Unterscheidung eines weiten und eines engen Kulturbegriffs?
Ob und auf welche Weise moderne Gesellschaften oder einzelne Gruppen ‚Kultur’ als ein vermeintlich Identität stiftendes ‚Ganzes‘ postulieren, ‚Kulturen‘ als ‚eigen‘ oder ‚fremd‘ wahrnehmen und sich mit Hilfe eines deskriptiv weiten oder normativ engen ‚Kultur‘-Diskurses über sich selbst verständigen, hängt von den jeweiligen Definitionen von ,Kultur‘ ab, also von den konkurrierenden, alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Verwendungen dieses Begriffs. (Siehe dazu: Claus-Michael Ort: Kulturbegriffe und Kulturtheorien [2003], in: Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hrsg.), Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart u.a.: Metzler 2008, S.19-38.)
Normativ enge, wertenden Kulturbegriffe, wie sie z.B. im Handlungsbereich von Kulturpolitik und populärer ‚Kulturkritik‘ verwendet werden, gehören deshalb nicht zum Begriffsarsenal einer theoriegeleiteten Beobachtungsperspektive, sondern zu deren Objektbereich. Das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse einer Kulturtheorie, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden will, wird darin liegen, Beschreibungs- und Erklärungsmodelle für das langfristige Inventar von Narrativen, Symboliken, Selbstbildern und Deutungsmustern von Gesellschaften und für deren Struktur- und Funktionswandel zu entwickeln.
Welche auch praktischen Vorteile bringt es mit sich, Zusammenhänge theoretisch zu reflektieren?
Die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie spricht von der grundsätzlichen ‚Theoriebeladenheit von Beobachtung‘: Keine Empirie ohne Theorie, keine ‚Angewandte Kulturwissenschaft‘ ohne Kulturtheorie!
Und wenn ‚Kulturtheorie‘ bedeutet, sich über Begriffe und Deutungsmuster gesellschaftlicher ‚Sinn‘-Produktion und Selbstreflexion Rechenschaft abzulegen und zugleich auch die eigenen Wahrnehmungsvoraussetzungen zu reflektieren, dann erfüllt dies nicht nur eine wissenschaftsethische Bedingung für redliche Forschung. Auch die Routinen alltäglichen Wahrnehmens und Kommunizierens, Verhaltens und Handelns sollten sich darüber hinaus nicht von vornherein gegen Selbstbeobachtung immunisieren; die Reflexion der kollektiven ‚kulturellen‘ Voraussetzungen solcher Routinen scheint auch angesichts digitaler Medien und ‚künstlicher Intelligenz‘ wichtiger denn je.
Wie präsent ist die Kulturtheorie heute im öffentlichen Diskurs/Bewusstsein?
Kulturtheoretische (kulturanthropologische, kulturphilosophische, kultursoziologische) Fragestellungen und Krisen-Diagnosen sind – auch wenn sie nicht immer ausdrücklich als solche markiert werden – nicht erst (aber besonders) seit der Corona-Pandemie in vielen Bereichen und Medien der interessierten Öffentlichkeit allgegenwärtig. Kulturtheoretische Publikationen werden kontinuierlich in den Feuilletons der überregionalen Tagespresse rezensiert; prominente Vertreter/innen von Philosophie, ‚Kultur‘- und Sozialwissenschaften (z.B. Carolin Amlinger, Jürgen Habermas, Steffen Mau, Armin Nassehi, Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa u.a.) äußern sich regelmäßig nicht nur in den Printmedien zu Fragen der moralischen, politischen, ökonomischen und rechtlichen Dimensionen von ‚Kultur‘, aktuell etwa auch zur Politisierung von Moral und zur Moralisierung von Kunst und zu den daraus resultierenden Konflikten mit dem Wert der Kunstfreiheit.
Um sich in dieser unübersichtlichen Diskurslandschaft zurecht zu finden, sind Grundkenntnisse über zentrale kulturtheoretische Begriffe, Denkweisen und Argumentationsmuster unabdingbar – auch und gerade im Rahmen einer ‚Angewandten Kulturwissenschaft‘.